Selektives Schulsystem – Nur die Besten dürfen studieren!?

Nach dem Ende meines letzten Seminars habe ich mich längere Zeit nicht mehr auf diesem Blog zu Wort gemeldet. Nachdem ich allerdings zwei Bücher mit unterschiedlichen Ansätzen der Schulförderung gelesen habe, möchte ich meine Einschätzung dazu abgeben.

Kurze Zusammenfassung der beiden Bücher

Das Werk von Paul Tough beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern Charaktereigenschaften wie Ausdauer, Optimismus, Neugier, Mut und Gewissenhaftigkeit wichtig für ein erfolgreiches Leben sind und ob der IQ nicht vielleicht eine untergeordnete Rolle spielt.

Tatsächlich bezieht er sich auf Studien aus den USA, bei denen besonders leistungsschwache Schüler aus sozial vernachlässigten Elternhäusern ausgewählt wurden, um nachzuweisen, dass diese Schüler bei gezielter Förderung eine gute Chance auf einen guten Schulabschluss und später einen guten Universitätsabschluss haben und somit eine Grundlage für ein erfolgreiches Leben geschaffen wird.

Dabei zeigt er eindrucksvoll, dass der IQ einer Person durch günstige Lebensbedingungen auch noch im Jugendalter gefördert werden kann. Er zeigt aber auch, dass Kinder aus vernachlässigten Elternhäusern nur dann eine faire Chance auf einen guten Start ins Leben haben, wenn es spezielle Förderprogramme für sie gibt. Diese Förderprogramme dürfen aber nicht nur Wissen vermitteln, sondern müssen besonderen Wert auf die Charaktereigenschaften legen, da diese wichtiger zu sein scheinen, als der „bloße“ IQ.

Das Werk von Stern und Neubauer hingegen, geht davon aus, dass gerade der IQ das wichtigste messbare Instrument ist, um den späteren Erfolg eines Menschen vorauszusagen.

Da wir laut Stern und Neubauer in einer Wissens- und Informationsgesellschaft leben, ist es von besonderer Bedeutung die Menschen entsprechend ihrer zu erwartenden Leistungsfähigkeit für die Gesellschaft zu fördern. Deswegen plädieren sie dafür, dass nicht mehr als 20 Prozent eines Jahrgangs eine akademische universitäre Ausbildung erhalten dürfen. Für alle anderen müssen genug Ausbildungsberufe geschaffen werden.

Sie sprechen sich allerdings auch dafür aus, dass die richtigen Schüler ungeachtet ihres sozialen Hintergrunds gefördert werden müssten. Demzufolge dürften „hochgezüchtete“ Akademikerkinder keinen Anspruch auf einen Studienplatz haben.

Die Auswahl für die akademische Ausbildung sollte erst nach dem 15. Lebensjahr stattfinden. Vorher sollten alle Schüler in einer Art Gesamtschule unterrichtet werden, die individuell auf alle Schüler eingeht und somit zu einem breiten Allgemeinwissen führt. Um das Begabungsniveau von schlechteren Schülern festzustellen und zu prüfen, warum sie hinter dem für ihren IQ zu erwarteten Leistungen liegen, sollten ihnen spezielle Hilfen zugestanden werden, die es ihnen ermöglicht, ihr Potential auszuschöpfen.

Den Charaktereigenschaften messen Stern und Neubauer dagegen weniger Bedeutung zu. Natürlich ist es nach ihrer Ansicht möglich, dass man durch Fleiß und Durchhaltevermögen bessere Leistungen erbringen kann, doch sind diese Möglichkeiten nicht unbegrenzt. Deshalb ist es wichtig das Potential der besonders Begabten zu fördern, da nur diese die kognitiven Voraussetzungen mitbringen, um wichtige Führungspositionen in Staat, Gesellschaft und Wissenschaft zu besetzen.

Zwei Konzepte

Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass sowohl Tough als auch Stern und Neubauer davon ausgehen, dass die Chancengerechtigkeit im Schulsystem zu wünschen übrig lässt. Tough bezieht sich dabei hauptsächlich auf die USA und Stern/Neubauer auf den deutschsprachigen Raum.

Allerdings messen sie dem IQ beziehungsweise den Social Skills (Charaktereigenschaften) unterschiedliche Bedeutung zu. Für Stern und Neubauer spielen die Social Skills nur eine untergeordnete Rolle, die höchstens zusätzlich zu den intellektuellen Fähigkeiten Berücksichtigung finden sollte. Dies wäre auch schon deshalb der Fall, weil diese Eigenschaften schlecht messbar wären und deshalb keine validen Aussagen getroffen werden könnten. Zudem gehen sie davon aus, dass der IQ bereits in den Genen festgelegt ist und die tatsächlichen Möglichkeiten eines Menschen von diesen festgesetzten Begebenheiten abhängen. Mit Fleiß und Durchhaltevermögen könnte zwar einiges erreicht werden, doch ist der Spielraum nach oben begrenzt, da aufgrund des IQ´s nur ein bestimmter Spielraum nach oben gegeben ist.

Tough hingegen beschreibt in seinem Werk, wie sich der gemessene IQ von sozial benachteiligten Jugendlichen verbessert, wenn sie entsprechend gefördert werden. Dabei spielen gerade die Social Skills eine wichtige Rolle, da diese den Kindern den notwendigen Optimismus in ihre Fähigkeiten, das Durchhaltevermögen, die Motivation, etc. geben, die sie benötigen, um eine Ausbildung abzuschließen und somit ein erfolgreiches berufliches und privates Leben zu führen. Ohne diese Hilfen gelingt es nach Tough den wenigsten Kindern aus dieser Spirale des Nichterfolges auszubrechen.

Er zeigt auch, dass das Hauptproblem nicht die „Armut“ an sich ist, sondern die damit einhergehenden Nebeneffekte, die dazu führen können, dass die Kinder vernachlässigt werden. Umso stärker diese Vernachlässigung ist und umso mehr Traumata diese Kinder erlebt haben, umso schlechter sind die Prognosen für ein erfolgreiches Leben. Durch eine spezielle Förderung, die möglichst früh beginnen sollte, ist es jedoch möglich diesen Prozess umzukehren.

Ist die elitäre Auswahl hilfreich und fair?

Wenn es nach Stern und Neubauer gehen sollte dürften nur die Menschen mit dem höchsten IQ die Möglichkeit nach zu einer universitären Ausbildung bekommen. Hierzu zählen nach ihrer Auffassung höchstens 20 % eines Jahrgangs. Alle anderen sollten die Möglichkeit zu einer guten und fundierten Ausbildung bekommen. Um die Chancenungerechtigkeit bezüglich der sozialen Schichten zu beseitigen, schlagen Stern und Neubauer Intelligenztests vor, die das Potential von weniger erfolgreichen Schülern auf Wunsch der Eltern messen, damit diesen eine entsprechende Förderung zukommen kann.

Aber wie genau soll dadurch eine Gerechtigkeit erzielt werden? Stern und Neubauer gehen davon aus, dass die Schüler bis zu einem bestimmten Lebensalter die Möglichkeit hatten sich ein bestimmtes Wissen abhängig von ihrem IQ anzueignen, wenn sie die selbe Schullaufbahn durchlaufen haben. Tough zeigt aber, dass der gemessene IQ je nach genossener Ausbildung und Motivation durchaus variieren kann und anscheinend auch abhängig von Motivation und weiteren Faktoren ist. Bei seinen Probanden zeigten sich nämlich teilweise enorme Leistungssteigerungen nach Eintritt in das Programm. Des Weiteren stellt er fest, dass bei der Durchhaltefähigkeit bei einem universitären Studium gerade auch die Social Skills von besonderer Bedeutung sind. Er hält fest, dass der Nebeneffekt des Projekts mit den ausgewählten Schülern die Feststellung war, dass nicht unbedingt die Schüler, welche den höchsten IQ hatten, das Studium erfolgreich abschlossen, sondern diejenigen mit anderen Fähigkeiten wie Motivation, Gewissenhaftigkeit, Durchhaltevermögen, etc.

Somit stellt sich die Frage, ob Kinder aus sozial benachteiligten Familien überhaupt besonders gut in IQ-Tests abschließen würden, und selbst wenn sie gute Ergebnisse erzielen würden, ob sie dies nutzen könnten, um später ein erfolgreiches Leben zu führen. Zudem sagt der IQ selber nur aus, wie schnell Informationen im Gehirn verarbeitet werden können. Das bedeutet aber auch, je größer mein Vorwissen in einem bestimmten Bereich ist, umso besser können Aufgaben gelöst werden. Des Weiteren spielen hier sicherlich Faktoren wie Prüfungsangst, Selbsteinschätzung der eigenen Leistungen eine wichtige Rolle. Und genau hier liegt auch das Problem. Wenn ein Kind aufgrund schlechter familiärer Bedingungen diese Möglichkeiten nicht nutzen konnte, wird es höchstwahrscheinlich in einem IQ-Test schlechter abschneiden, wie es unter besseren Umständen hätte abschließen können. Somit werden ohne eine möglichst früh einsetzende Förderung von Kinder aus sozial benachteiligten Elternhäusern, diese trotzdem hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben.

Lebenslanges Lernen – Was war das noch mal!?

Ein weiterer wichtiger Aspekt, der mich bei dem Werk von Stern und Neubauer bewegt hat, war die Frage nach dem lebenslangen Lernen. Immer wieder hört man von Seiten des Staats und der Wirtschaft, dass man sich möglichst lebenslang weiterbilden soll. Nach den Ausführungen von Stern/Neugebauer dürfte diesem aber nicht mehr so große Bedeutung zukommen. Dies ist schon deshalb so, da wenn nur die 20 Prozent der Besten eines Jahrgangs die Oberstufe und somit später auch die Universität besuchen dürfen, ein lebenslanges Lernen in diesem Maße gar nicht mehr möglich ist. Wenn ein Kind also aus irgendeinem Grund bis zum 15. Lebensjahr nicht geschafft hat zu den 20 Prozent der Besten zu gehören, bleibt ihm „nur“ noch die Möglichkeit für eine Ausbildung. Eine Durchlässigkeit des Systems wird nicht angedacht. Aber genau diese Durchlässigkeit ist wichtig. Es könnte theoretisch auch sein, dass ein Schüler sich einfach nicht sonderlich für die Schule interessiert hat und vielleicht deswegen „schlechte“ oder „durchschnittliche“ Leistungen erbracht hat und erst im Erwachsenenalter das Interesse dafür gewinnt. Warum soll ihm die Aneignung von entsprechendem Wissen nun verwehrt werden?

Weiterhin ist es ebenfalls bedenklich, dass der Berufserfolg so stark an den Noten festgemacht wird. Zwar sprechen sich Neubauer/Stern eher gegen Noten aus, da diese subjektiv sind, doch kann eine reine Objektivität auch nicht durch IQ-Tests garantiert werden. In gewissem Maße können sicherlich Erfolgsaussichten bei einem gemessenen IQ berechnet werden, doch spielen noch weitere Aspekte wie zum Beispiel die Social Skills eine wichtige Rolle, die aber naturgemäß schlechter gemessen werden können. Genauso sieht es zum Beispiel mit der Auswahl von Lehrkräften aus. Die Einstellung in das Beamtenverhältnis bei Lehrkräften findet in Deutschland zum Beispiel hauptsächlich aufgrund der Noten im Staatsexamen statt. Nach Stern/Neubauer müssten sich dadurch, dass bestimmte Studenten besonders gut abgeschlossen haben, auch davon ausgegangen werden, dass sozusagen eine natürliche Selektion der Besten stattgefunden hat. Diese Absolventen müssten dementsprechend auch in der Regel einen besonders hohen IQ haben. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie auch besonders gut mit Kindern und Jugendlichen umgehen können und den Stoff den Schülern so vermitteln können, dass diese ihn auch verstehen. Hier spielen nämlich noch ganz andere Aspekte eine Rolle, nämlich das Verhalten der Lehrperson gegenüber den Schülern, die Sympathie und die Unterrichtsgestaltung. Nicht zuletzt stellt auch John Hattie in seinem Werk „Lernen sichtbar machen“ fest, dass der Erfolg der Schulausbildung maßgeblich mit der Person des Lehrers und dessen Fähigkeit der Vermittlung abhängig ist. Wieso soll es nun aber nur Lehrkräften mit außerordentlichen intellektuellen Leistungen gelingen, den Schülern den Stoff näherzubringen? Sind hierfür nicht auch andere Qualitäten der Lehrkraft notwendig, die sich nicht so einfach wie der „IQ“ messen lassen?

Ethische Aspekte

Zudem stellen sich auch ethische Probleme, wenn der berufliche Erfolg einer Person maßgeblich von gemessenen IQ-Werten abhängt. Wie bereits beschrieben gibt es weitere wichtige Dimensionen die nicht messbar sind, aber durchaus wichtig für den beruflichen Erfolg. Zum anderen leuchtet mir nicht ein, warum nur die Personen das Recht auf weitergehende und somit uneingeschränkte Bildung haben sollen, die zu den besten 20 Prozent eines Jahrgangs gehören. Sicherlich begründen dies Stern und Neubauer damit, dass diese durch ihre besonders schnelle Arbeitsgeschwindigkeit des Gehirns neuen Aufgaben besonders flexibel gewachsen wären und somit bessere Entscheidungen für die Gesellschaft treffen könnten. Ein weniger intelligenter Mensch wäre diesen hohen Anforderungen somit nicht gewachsen.

Somit maßen sich Stern und Neubauer in gewisser Weise an, über den Lebensweg von Menschen zu bestimmen. Sie gehen davon aus, dass aufgrund gewisser Wahrscheinlichkeiten einige besser als andere für Führungspositionen geeignet sind. Sie geben diesen Menschen nicht einmal die Chance das Gegenteil zu beweisen, da sie Menschen von vornherein in Höchstbegabte, Hochbegabte, Begabte und Wenigerbegabte einteilen.

Ein Mensch sollte aber die Möglichkeit bekommen, selbst über seinen Lebensweg bestimmen zu können. Wenn er die Leistungen erbringt, die das Studium, etc. erwartet, sollte er auch ungeachtet seines IQ´s studieren dürfen.

Wenn wir den IQ eines Menschen zur Basis für beruflichen Erfolg machen, können wir auch im gleichen Atemzug  einen Gentest einführen, der eine Voraussage über die Wahrscheinlichkeit für die Anfälligkeit eines Menschen für bestimmte Krankheiten gibt. Dann könnten nämlich auch diejenigen aussortiert werden, bei denen sich die universitäre Ausbildung aufgrund von möglichen Krankheiten nicht lohnt.

Zum Nachdenken